R. Holenstein: Wer langsam geht, kommt weit

Cover
Titel
Wer langsam geht, kommt weit. Ein halbes Jahrhundert Schweizer Entwicklungshilfe


Autor(en)
Holenstein, René
Erschienen
Zürich 2010: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
293 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Konrad J. Kuhn, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (FSW), Universität Zürich

Die Entwicklungszusammenarbeit befindet sich gegenwärtig in der Krise, sie kämpft mit Legitimationsproblemen und sieht sich einerseits einem schwindenden Interesse, andererseits einem wachsenden Aufgabenfeld gegenüber. Der Elan, der noch im Jahr 2000 mit der gemeinsamen Verabschiedung der Milleniums-Entwicklungsziele spürbar war, hat sich angesichts von schleppendem Wirtschaftswachstum, Finanz- und Ernährungskrise sowie zurückgehenden Handelschancen für die Entwicklungsländer verflüchtigt. Kaum jemand glaubt noch an die Erreichung der vereinbarten Entwicklungsziele. Dieser «Umbruch» (wie ihn Martin Dahinden als Leiter der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA im Vorwort bezeichnet) machte sich in den letzten Jahren auch in der Schweiz anlässlich von parlamentarischen Budgetdebatten und gehässigen Zeitungskommentaren bemerkbar. Damit kommt das vom langjährigen Entwicklungsexperten und Historiker René Holenstein geschriebene Buch zur richtigen Zeit und ist sowohl Bilanz bisheriger Entwicklungsbemühungen als auch Appell (S. 16) für weitere Entwicklungsanstrengungen. Holenstein erweist sich als Kenner der globalen Entwicklungsdiskussion und verfügt zudem über einen – bei Entwicklungspraktikern leider oft fehlenden – historischen Tiefenblick auf die Konjunkturen in der Entwicklungstheorie und deren helvetischen Umsetzungen in die Praxis der Entwicklungszusammenarbeit.

Nach einer engagierten Einführung in die aktuelle entwicklungspolitische Debatte und die gegenwärtigen Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit, skizziert der Autor die Schwerpunkte und Akteure der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit, nicht ohne dabei deutlich zu monieren, dass die Schweiz weder ihre quantitativen Versprechen bezüglich Entwicklungsbudget einhält, noch über eine «Politikkohärenz» (S. 26) im Bereich der Steuer-, Handelsund Wirtschaftspolitik verfügt. In einem umfangreichen Überblickskapitel werden danach 50 Jahre Geschichte der Entwicklungspolitik in der Schweiz rekapituliert und für jedes Jahrzehnt die Charakteristika und Hauptthemen resümiert. Dabei liegt der Fokus auf der staatlichen Entwicklungshilfe der Schweiz, wobei spannende Querverweise auf globale Vorgänge wie die Verschuldung, den weltpolitischen Umbruch 1989/91 oder die Globalisierung «als Diagnose und Rezept zugleich» (S. 94) gemacht werden. Die Themenfelder, in denen «gute Entwicklungszusammenarbeit» (S. 113) Erfolge erzielten konnte, stehen im Zentrum des dritten Teils des Buches. So wird die Armutsbekämpfung mit konkreten Beispielen für erfolgreiche Bildungsprogramme, die Friedenspolitik und die gute Regierungsführung unter Wahrung der Menschenrechte vorgestellt, wobei stets reflektiert wird, wie die entsprechenden Entscheidungsprozesse und Prioritätensetzungen in der zuständigen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit zustande kamen. Zugleich kommen aber auch die Rückschläge und Krisen der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit zur Sprache – so beispielsweise der Genozid im langjährigen Schwerpunktland Rwanda, der «Schweiz Afrikas» (S. 180). Stellenweise leidet in diesem Teil allerdings die Lesefreundlichkeit, indem der Text von Fachund Modebegriffen wie «Empowerment», «Gouvernanz» oder «Partizipation» geprägt ist und die entwicklungsspezifischen Debatten eher technisch referiert werden. Dass in den letzten Jahren offenbar auch der Entwicklungsbegriff zunehmend verschwimmt, wenn von Demokratieförderung über Sicherheitspolitik bis zur «Schaffung einer stabilen Weltordnung» (S. 102) alles als Entwicklungszusammenarbeit subsumiert wird, wird in der mit konkreten Projektbeispielen angereicherten Schilderung durchaus auch kritisch angemerkt. Zum Schluss wird in einem Plädoyer die Überzeugung vertreten, dass richtig eingesetzte Hilfe allen Unkenrufen zum Trotz sinnvoll und wirksam sei. Holenstein gelingt es hier, pauschale Kritik zu entkräften und Felder zu skizzieren, in denen das schweizerische Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit eine erfolgreiche Zukunft hat. Den Rückblick über «ein halbes Jahrhundert Schweizer Entwicklungshilfe» – so der Untertitel des Buches – ergänzen 15 Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, welche die staatliche Entwicklungszusammenarbeit mitgeprägt haben. Hier kommen so unterschiedliche Personen wie die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss, die Entwicklungsexperten Jean-François Giovannini, Jacques Forster und Martin Menzi, der Brückenbaupionier Hans Aschmann, der Präsidentenberater Marcel Heimo oder der «schöpferische Entwicklungsbürokrat» Thomas Raeber (S. 68) zu Wort. Diese Gesprächsaufzeichnungen erlauben es, die sich wandelnde Problemwahrnehmung während der 1970er-Jahren nachzuverfolgen, als dependenztheoretische Modelle die bisherigen modernisierungstheoretischen Sichtweisen verdrängten. Leider ist gerade die Modernisierungstheorie mit zahlreichen Pionieren aus den Anfangsjahren der Entwicklungshilfe eher übervertreten, während dependenztheoretisch motivierte oder vom Ideal internationaler Solidarität angetriebene Exponentinnen aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu kurz kommen. Entsprechend könnte der falsche Eindruck entstehen, Entwicklungspolitik sei in der Schweiz in den letzten fünf Jahrzehnten primär eine Sache von in der staatlichen Entwicklungsdirektion angestellten Männern mit Geburtsjahrgängen zwischen 1920 und 1940 gewesen. Auch um einer solchen Perspektive entgegenzuwirken, verdienen das zivilgesellschaftlich-entwicklungspolitische Engagement und deren Tiefenwirkungen in die schweizerische Gesellschaft ab Ende der 1960er-Jahre weitere Forschungsaufmerksamkeit. Es ist nämlich gerade die bisherige Dominanz der staatlichen Entwicklungsanstrengungen im Narrativ über die Geschichte der Entwicklungspolitik, die hier den Blick verstellt auf die Wechselwirkungen zwischen öffentlicher Akzeptanz und zivilgesellschaftlichem Engagement. Erst durch die praktische aber auch theoretische Arbeit und innenpolitische «Bewusstseinsbildung» der Hilfswerke, der entwicklungspolitischen Gruppen und später der Solidaritätskomitees ist – bei aller Umstrittenheit – jener Konsens geschaffen worden, der eine mittlerweile 50 Jahre dauernde Praxis aussenpolitischen Engagements der Schweiz motivierte.

Holenstein präsentiert ein spannendes, stellenweise gar faszinierend zu lesendes Buch mit einer gekonnten Mischung aus Analyse und Originalstimmen von EntwicklungsexpertInnen, das die bisherigen Publikationen zur Geschichte der Entwicklungspolitik und der Solidarität in der Schweiz ideal ergänzt und erweitert. Gerade für nichtspezialisierte Leserinnen und Leser bietet es einen konzisen Rückblick über die Geschichte der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit und einen engagierten Ausblick auf die kommenden Herausforderungen. Mit einer nützlichen Chronologie, einer knappen Bibliografie und einem Personenverzeichnis liefert das Werk einen hilfreichen Einstieg in die Thematik und wirkt in diesem Sinne hoffentlich anregend auf weitere historische Forschungen über internationale Solidarität und entwicklungspolitisches Engagement. Wenn es darüber hinaus das Bewusstsein für die Probleme der Entwicklungsländer und für die Mitverantwortung der Schweiz stärken kann, hat es sein Ziel erreicht.
Konrad J. Kuhn, Zürich

Zitierweise:
Konrad J. Kuhn: Rezension zu: René Holenstein: Wer langsam geht, kommt weit. Ein halbes Jahrhundert Schweizer Entwicklungshilfe. Zürich, Chronos-Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 380-382

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 3, 2011, S. 380-382

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